Das Mittelalter 17 (2012), H. 1, S. 190–192

Seitdem im Zuge der Anthropologisierung der Geschichtswissenschaft auch die Mediävistik dem menschlichen Lebenszyklus verstärkte Aufmerksamkeit widmet, werden die Lebensphasen „Kindheit“ und „Alter“ im Mittelalter bevorzugt untersucht. Die hier versammelten Beiträge knüpfen aus Sicht verschiedener Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Archäologie, Lateinische Philologie und Germanistik zum einen an geläufige Problemstellungen an, indem sie z. B. die Frage des seitens der Anthropologie und der Archäologie diskutierten „Kleinkinderdefizits“ auf frühmittelalterlichen Gräberfeldern aufgreifen, die Aussagekraft hagiographischer und anderer erzählender Texte erörtern oder die Verarbeitung von Generationenkonflikten in der mittelhochdeutschen Literatur untersuchen. Zum anderen erweitern sie auf der Grundlage neu entdeckter bzw. neu befragter Quellen das Bild von „Kindheit“ und „Alter“ um aufschlussreiche Facetten. A. MEYER etwa ediert hier – leider ohne auswertenden Kommentar – einige Dokumente aus den ältesten Notarsregistern von Lucca, die anschauliche Einblicke in das Luccheser Schulleben im frühen 13. Jh. bieten. … Als instruktive Quellen für Fragen des Alltagslebens bzw. für „kleine Schicksale“ (so jüngst Arnold Esch im Untertitel von „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter“, 2010) erweisen sich einmal mehr die Suppliken und Dispense der päpstlichen Pönitentiarie im Spätmittelalter. M. KLIPSCH hat unter 838 Fastendispensen der Zeit von 1431 bis 1484 132 Dokumente ausfindig gemacht, in denen die männlichen und weiblichen Bittsteller, darunter Laien, Kleriker, Ordensmitglieder und andere Religiosen, ihr hohes Alter und ihre damit einhergehende körperliche Gebrechlichkeit als Grund dafür anführen, dass sie nicht auf den Verzehr von Eiern, Butter, Milchprodukten, manchmal auch von Fleisch verzichten können. Die verwendeten Formulierungen lassen erkennen, dass zwischen verschiedenen Abstufungen von „Alter“ klar unterschieden wurde …
Die meisten Studien berühren in irgendeiner Weise die Frage, welchen Bezug die untersuchten Texte zur Lebenspraxis hatten. Was die beiden Beiträge, die sich mit mittelalterlichen Lebensbeschreibungen beschäftigen, angeht, so arbeitet E. SCHLOTHEUBER zutreffend heraus, dass „Kindheit und Erziehung in den spätmittelalterlichen Biographien tiefgreifend von anthropologischen Grundannahmen und abstrakten Vorstellungen von dem Verlauf eines Menschenlebens geprägt“ erscheinen (52) und dass sinnstiftende Auffassungen das Verständnis der realen Lebenswelt von Kindern mitbestimmen. M. RENER differenziert bei dem Versuch, Heiligenviten als „Quelle für die Pädagogik des Mittelalters“ auszuweisen, zu wenig im Hinblick auf die Typenvielfalt und die Veränderungen des hagiographischen Genres (soweit man überhaupt von einer „Gattung“ und nicht eher von einem „Diskurs“ ausgehen möchte) im Lauf des Mittelalters. C. FÖLLER, die die Enzyklopädien des Thomas von Cantimpré, des Bartholomäus Anglicus und des Vinzenz von Beauvais im Hinblick auf infantia und pueritia durchmustert hat, wirft die maßgebliche Frage auf, inwieweit deren Lehren vermittels Predigten rezipiert wurden und womöglich als Leitfaden zur Erziehung und Wissensvermittlung fungierten. … R. ATZBACHs Aussage, dass die verbreitete Annahme einer Kindersterblichkeit von rund 50% im Frühmittelalter „jeder Grundlage“ entbehrt (16), erscheint zumindest beim Blick aufs gesamte Mittelalter überzogen, denkt man an die einschlägigen Ergebnisse bei der Auswertung spätmittelalterlicher Kinderverzeichnisse. Dem Verfasser ist allerdings zuzustimmen, wenn er im Anschluss an die Studie von Stefanie Kölbl (Kinderdefizit, ungedr. Diss. Tübingen 2004, [Zugriff am 17.05.2012]) fordert, nicht in der Diskussion über das vermeintliche „Kinderdefizit“ stecken zu bleiben.

Cordula Nolte, Bremen

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Sudhoffs Archiv 95, 2 (2011), S. 238 f.

Der Band enthält eine Reihe anregender Beiträge zu den im Titel angesprochenen Themenkomplexen … Die Einzelbeiträge sind … sehr lesenswert.
Eva Schlotheuber untersucht die (auto)biographischen Literaturen des Spätmittelalters und liefert ungemein interessante Details aus zeitgenössischen Quellen, die, vom fundierten Inhalt abgesehen, auch – so etwas gibt es! – spannend zu lesen sind. So hielt es Otto von Freising im 12. Jahrhundert – im Gegensatz zu Augustinus – für möglich, daß am Jüngsten Tag auch Greise und Kinder auferstehen, freilich ohne jede Geistes- oder Körperschwäche! … Der Mittelalter-Archäologe Rainer Atzbach versucht das „Kinderdefizit“ unter den Toten des Frühen Mittelalters (entsprechende „Statistiken“ wurden freilich erst Jahrhunderte später konstruiert) zu erklären, indem er es als Artefakt entlarvt. … Carola Föller beschäftigte sich mit den Begriffen infantia und pueritia in Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts. Obgleich die ausgewählten Autoren Thomas von Cantimpré (De natura rerum), Bartholomäus Anglicus (De proprietatibus rerum) und Vincenz von Beauvais (Speculum maius) in ihren Werken den ordo mundi feierten, der als Zeichen der optimalen Qualität von Schöpfung Gottes verstanden wurde (dies zu begreifen war Sinn alles Wissens über den Kosmos, über Natur und Anthropologie!), differieren die Lebensalter, die Grenzen von infantia und pueritia, die Beschreibung der Kinder und Jugendlichen sowie ihre charakterlichen Eigenschaften durchaus. … Andreas Meyer stellt ein Schüler-Lehrerverhältnis im Lucca des 13. Jahrhunderts vor, dazu einige durchaus amüsante Vertragsdetails. Vor allem der Lehre hatte erstaunliche Verpflichtungen und „Versicherungen“ Sollten seine Schüler die Tische beschädigen, hatte der Magister dem Schreiner, der sie ihm ausgeliehen (!) hatte, Schadensersatz zu zahlen. Matthias Klipsch berichtet über Fastenregeln für Greise, wobei er das Thema einer weiteren Betrachtung unterzieht. … Auch interessante semantische Überlegungen werden angestellt. Fasten war eine hochoffizielle Angelegenheit, die Dispens häufig Sache des Papstes. Schließlich fügt Ines Heiser mit ihrem Beitrag „Generationenkonflikte? Erbrecht und Elternfürsorge in der mittelhochdeutschen Literatur“ interessante Einblicke in die Problematik junger und alter Menschen als Erben und Erblasser. Es gab hier gewisse unabdingbare, letztlich naturrechtlich begründete Gepflogenheiten. Besonders literarische Quellen erlauben dabei interessante Einblicke. … Der Band ermöglicht ergänzende Einsichten zur mittelalterlichen Alltagsgeschichte. In Ergänzung zu den genannten Publikationen wird er wichtige Dienste leisten und zu mancher weiterer Forschung anregen. Auf überflüssigen theoretischen Diskurs wird in allen Beiträgen auf angenehme Weise verzichtet. Bei quellenorientierten Arbeiten dieser Art wird die Qualität auch so deutlich genug vor Augen geführt.

Klaus Bergdolt, Köln

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Historische Zeitschrift, Bd. 290 (2010), S. 452 f.

… Als ein wesentliches Ergebnis der Gesamtlektüre kristallisiert sich vor allem die Erkenntnis heraus, daß es sich weiterhin lohnt, in den verschiedensten Gattungen überlieferter Zeugnisse nach den Deutungen, Erfahrungen und Artikulationen von Gesundheit und Krankheit zu fahnden, und daß insbesonder in den Archiven noch ungehobene Schätze liegen …

Cordula Nolte

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Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken,
Bd. 88, 2008, S. 677–679

Am 1. Juni 1251 prüfte Priester Alamannus, Leiter des Hospitals von San Martino in Lucca, den Gesundheitszustand von Bona, Ehefrau von Damascus aus Montecatini im Valdinievole. Das im Archivio Capitolare di Lucca aufbewahrte notarielle Gutachten der Untersuchung von Bona erklärte diese als von Lepra befallen. Für die Erkrankte und ihre Familie hatte das medizinische Urteil einschneidende Folgen, denn nach dem 23. Dekret des 3. Laterankonzils von 1179 wurden Leprose mit einer, an die Totenliturgie angelehnten, Zeremonie aus ihrer Kirchengemeinde verabschiedet und mussten ihre gewohnte Umgebung verlassen. Luccheser Erkrankte konnten gegebenenfalls Unterkunft in einem Sondersiechenhaus der Diözese Lucca finden. Andreas Meyer legt in seinem aufschlussreichen Aufsatz zahlreiche Transkriptionen von Quellen vor, die „zweifellos zu den ältesten erhaltenen Lepraschaubriefen gehören“ (S. 153) und beschreibt sehr anschaulich die Praxis der Aussätzigenschau, die Lebensbedingungen und die Fürsorgemöglichkeiten an Lepra Erkrankter in Lucca. Seine Ausführungen fügen sich in einen – im Rahmen des Marburger Mittelalter-Zentrums entstandenen – interdisziplinär ausgerichteten Band ein, der in seinen vierzehn Beiträgen eine bemerkenswerte methodische Vielfalt vorführt. Kunstgeschichtliche, sprachwissenschaftliche, literaturhistorische, volkskundliche und medizinhistorische Zugänge ermöglichen interessante Einsichten in die Geschichte der mittelalterlichen Medizin und wertvolle Anhaltspunkte zum gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit – einem Themenfeld, das in den vergangenen Jahren vermehrt wissenschaftlich-historisches Interesse auf sich gezogen hat. Der facettenreiche Tagungsband enthält auch einen Beitrag von Antje Ziemann zur Leichenwäsche durch Mitglieder venezianischer Bruderschaften. Während die historische Forschung am Totengedenken in all seinen Ausprägungen großes Interesse zeigte, sind hinsichtlich des praktischen Umgangs mit Leichen zahlreiche Fragen offen geblieben, die Ziemann nun in den Mittelpunkt ihres Beitrags rückt. Sie untersucht auf der Grundlage überlieferter Bruderschaftsstatuten die in venezianischen Bruderschaften (scuole) ausgeübte Krankenfürsorge, die Sterbewache, die Bestattung und das Leichenwaschen. Die dort praktizierte Reinigung des Körpers verstorbener Soci zählte zu den karitativen Verpflichtungen und entsprach einem tradierten Brauch: Der Tote sollte gereinigt ins Jenseits gehen, zugleich sollten, in einer von magischem Denken geprägten, Umwelt auch die mit dem Toten verbundenen schädlichen Einflüsse abgewehrt werden. Der Blick auf Bruderschaften in anderen italienischen Kommunen, in denen die Leichenwaschung nicht üblich war, und auch auf Fraternitäten des deutschsprachigen Raums führt die Autorin zu der Schlussfolgerung, dass diese Praxis „einen Sonderfall im spätmittelalterlichen Bruderschaftswesen darstellt“ (S. 335). Der erfreulich quellennahe Tagungsband enthält mit dem Beitrag von Jürgen Wolf auch wertvolle Informationen zur Fortsetzung entsprechender Untersuchungen: Wolf weist auf den reichen, aus zahlreichen Beständen bestehenden, Handschriftenbestand zur mittelalterlichen Medizin im Besitz der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hin, der ein weites und ergiebiges Forschungsfeld eröffnet.

Kerstin Rahn