Leipziger Internetzeitung, 25.4.2017

Über große Kriege schreiben meist nur große Feldherren, Strategen und Historiker. Was aber der einfache Soldat erlebt hat, das erfährt die Welt meist nur, wenn Leute wie Hasek, Remarque oder Tucholsky drüber schreiben. Viel zu selten kann auf authentische Dokumente der Kriegsteilnehmer zurückgegriffen werden. Das Kriegstagebuch des Leipzigers Heinrich Oskar Kunitzsch ist so ein seltener Fall. …
Auch wenn Kunitzsch das Tagebuch erst nach seinen Frontaufenthalten geschrieben hat, ist es oft so detailgetreu, dass er wahrscheinlich authentische Aufzeichnungen zur Verfügung hatte. Und er sah sich auch nicht genötigt, all die Erniedrigungen als einfacher Soldat wegzulassen, auch wenn sie eher episodenhaft auftauchen – gerade wenn es um Schikanen in der Etappe geht.
Manches taucht nur anekdotisch auf. Auch die Grausamkeit des Krieges selbst. Man müsse solche Ego-Dokumente kritisch lesen, warnt Müller. Recht hat er – und Unrecht zugleich. Denn gerade das, was fehlt, oder was scheinbar wie sarkastischer Landsknechts-Jargon rüberkommt, erzählt von der emotionalen Distanz, die die Soldaten mitten im dreckigen Gemetzel entwickeln mussten. Den Tod engster Freunde registriert Kunitzsch noch. Das Massensterben erwähnt er nur selten, auch wenn er viele Situationen schildert, in denen er dem Tod noch einmal davongerannt ist. Die Zahlen zum Text liefert Müller selbst in lauter kleinen Glossen am Buchrand, in denen er aus alten Weltkriegsberichten zitiert und die Verluste gerade in den sächsischen Regimentern auflistet, in denen Kunitzsch eingesetzt war. Und der lag oft genug direkt am Rand solcher riesigen Material- und Menschenschlachten, erlebte Gasangriffe und hat den Großteil seiner Einheiten sterben sehen. Was sich trotzdem auf wenige Momente konzentriert, in denen er selbst darüber nachdenkt, wie wenig genügt, dass auch er einer der vielen namenlosen Toten wäre. …
Seine Postkarten an die ferne Geliebte haben sich erhalten und bereichern den Band genauso wie die Fotos, die Kunitzsch und seine Kameraden in der Ausbildung, an der Front oder dann auch in der langen Zeit im Lazarett zeigen. Zwischendrin auch Karten der originalen Kriegsschauplätze, mit denen der Herausgeber den Text anreichert, Bilder von alliierter Seite und von den Orten, in denen Kunitzsch sich aufhielt. …
Im Nachwort ergänzt Herausgeber Ralf C. Müller noch Wesentliches, die Herkunft der Quelle genauso wie das Leben und das familiäre Umfeld des Tagebuchautors. Gerade die kleinen Glossen am Seitenrand helfen bei der Einordnung, machen „Nuancen der Interpretation“ möglich und ordnen dieses sehr persönliche Dokument ein – ein Puzzle-Stück in ein Weltkriegspanorama, das gerade durch die Berichte der „einfachen Leute“ da und dort erst ein wenig Farbe und Tiefe bekommt. …

Ralf Julke