PAIDEUMA 63 (2019), S. 294–298

… Eine solche Darstellungsweise durch Einzelfälle, die nicht im Allgemeinen aufgelöst werden, ohne daß aber das Allgemeine vergessen würde, sperrt sich einem starken Theorie-Überhang, und deshalb empfehle ich das Buch allen, die (etwa durch ihr quälend theoriehuberndes Studium) der Freude an der Feldforschung beraubt wurden. Wenn ethnologische Arbeiten und ganze Schulen danach unterschieden werden können, ob eine Arbeit mit dem theoretischen Überbau oder mit der empirischen Feldforschung beginnt, so gehört dieses Buch, bezeichnenderweise aus der Leipziger Ethnologie, zur zweiten Gruppe. Natürlich darf allgemeine Theorie nicht fehlen, aber sie ist eingehegt in konkrete Beschreibungen des Einzelnen. Das soll allgemeine Feststellungen nicht ausschließen, etwa wenn es im Zusammenhang spezifischer Ausprägungen des Islams heißt: „Sowohl dem Wunder als auch der Fantastik widmen sich die Menschen im Alltag intensiv“ (152), wobei „die Menschen“ sich durchaus verallgemeinernd auf Zigeuner im ganzen Raum bezieht. Es folgen dann auch einige Sätze zur generellen definitorischen Unterscheidung zwischen den beiden verwendeten Begriffen „wunderbar“ und „fantastisch“, doch dann geht es gleich weiter zu einem persönlichen Erlebnis des Autors mit einem Menschen, der ein Wunder erlebt hat (Brot war süß geworden), und wie es darüber zu einer Diskussion kam, wer das Wunder verursacht habe: Jesus, die Muttergottes oder Böses verheißende djinns (im Islam eine Spezies von Geistern; Schwanke hörte sie meist als böse erwähnt). […] Ob die[se] Gegenwartsbezogenheit aus der Erfahrung von Verfolgung, Greueltaten und Vertreibung resultiert, die lehrt, daß Sicherheit und Frieden nicht von Dauer sind, oder ob sie ein überliefertes Kulturmuster aus alter Zeit ist, bleibt letztlich offen. Der Autor neigt einer kulturbezogenen Erklärung zu, zeigt aber durch die persönlichen Schicksale auch die Macht von Leidenserfahrungen. Er leidet mit, aber bei anderen Gelegenheiten, etwa bei Festen freut er sich auch mit. Er kann auch Theorie, aber er ist kein Karriere-Theoretiker aus einer Oberseminar-Karikatur, sondern einer, der genau hinschaut. Ein guter Ethnologe eben. …

Mark Münzel